Im Kunstgespräch, das eher ein Monolog von Lenz ist, unterhält sich dieser mit dem Sturm-und-Drang-Dichter Christoph Kaufmann, der mit seiner Verlobten ins Steintal gekommen ist, über Kunst. Für den Fluss der Handlung ist diese Episode eigentlich nicht nötig, da es hier nicht um Lenz‘ fortschreitenden Wahnsinn geht.
In dem Gespräch mit seinem Dichterkollegen Christoph Kaufmann streitet sich Lenz mit diesem darüber, welche Kunstrichtung die wahre ist. Lenz ist der Meinung, nur eine realistische Darstellung zeigt die Welt, wie sie ist, und Kaufmann ist der Auffassung, dass die Kunst die Aufgabe hat, alles idealistisch abzubilden. Lenz blüht während des Disputs förmlich auf und ist ganz in seinem Element, während er seine Sichtweise darlegt.
Er führt aus, dass das einzige Kriterium für wahre Kunst nicht die Frage nach der Ästhetik, also ob etwas schön oder hässlich ist, sein kann, sondern dass es darum geht, dass in dem Dargestellten Leben ist. Es muss lebensecht und somit real wirken. Zu finden ist diese Art Kunst nur selten. Shakespeare und Volkslieder hätten sie und auch manches von Goethe, meint Lenz.
Wichtig sei es im Realismus, dass nicht versucht wird, das Leben hochrangiger Leute darzustellen, sondern das der kleinsten Leute, so wie es beispielsweise Lenz selbst in seinen Stücken „Der Hofmeister“ und „Die Soldaten“ versucht habe. Allerdings ist ihm das nicht ganz gelungen, da noch geringere Menschen denkbar sind, als Soldaten oder ein Hofmeister.
Lenz erläutert weiter, dass das Wiedergeben des einfachen Lebens aber nur möglich sei, wenn man auch einen Blick dafür habe. Lenz führt als Beispiel zwei Mädchen an, die er am Tag zuvor beim Wandern gesehen hat. Die Situation war ganz alltäglich: Ein Mädchen half dem anderen dabei, seine Haare zu frisieren und dann gingen die beiden zusammen ins Tal. Diese einfache Szene ist für Lenz voller Schönheit. Er kritisiert, dass ein Maler nur einen Moment des Geschehens auf die Leinwand bannen kann, wodurch die lebendige Szene erstarrt. Für Lenz ist aber gerade die Lebendigkeit wichtig, weshalb er generell von Malerei nicht viel hält. Er liebt die Menschen, weshalb es ihm möglich ist, hinter die Fassade zu schauen und dadurch die Eigentümlichkeit des Einzelnen wahrzunehmen. Er als Realist lässt sich davon berühren und zeigt diese Schönheit in seinen Dichtungen.
Kaufmann setzt dieser Argumentation entgegen, dass er in der Realität kein Vorbild für die Darstellung des griechischen Gottes Apoll von Belvedere, dem Inbegriff der antiken Kunst, oder die berühmte Madonnendarstellung des Renaissance-Malers Raffael finden könnte. Damit übergeht er gänzlich, was Lenz gesagt hat. Für Kaufmann ist Kunst pure Ästhetik und fern der Wirklichkeit, da sie das unerreichbare Ideal zeigt.
Dem widerspricht Lenz, indem er sagt, dass diese Werke keine Emotionen auslösen. Daher ist ihm ein getreues Nachahmen der Wirklichkeit lieber, da er dann etwas fühlen kann. Er führt dies noch an den einzigen beiden Bildern aus, bei denen es ihm so ergangen ist. Das eine heißt „Christus in Emmaus“. Es ist im 17. Jahrhundert entstanden und stammt von dem niederländischen Maler Carel van Savoy. Das Bild zeigt Jesus mit zwei Jüngern am Tisch sitzen. Er bricht gerade das Brot und wird durch diese Geste von den beiden anderen erkannt. Sie schauen zu Jesus und scheinen in ihrer Bewegung erstarrt. Sie sehen beide aus wie einfache Menschen im Gegensatz zu dem ideal dargestellten Jesus Christus, der als Sohn Gottes in eine andere Kategorie gehört. Gerade das Menschliche der Jünger berührt Lenz.
Das zweite Bild, das in Lenz Gefühle weckt, zeigt eine alte Frau, die in ihrem Sonntagsstaat in einem Zimmer am offenen Fenster sitzt. Sie hält ein Gebetbuch in der Hand und betet, da sie vermutlich nicht zur Kirche gehen konnte. Dieses Bild zeigt ebenfalls einen einfachen Menschen in einer alltäglichen Situation.
Auffallend ist, dass beide Bilder etwas mit dem Glauben zu tun haben, was Lenz‘ Frömmigkeit zeigt. Sie spiegeln, was ihm selbst Halt gibt, da sie ihn berühren.
Lenz spricht dann in ähnlicher Weise weiter. Er ist völlig selbstvergessen und geht in dem, was er sagt, auf. Dass die Anwesenheit Kaufmanns ihn an seinen Vater und seine Pflichten erinnert, ist in diesem Moment völlig vergessen.
Autorin: Kirsten Schwebel
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